Karla Karoline Sonne Kalinka Alex

Schreiben als ein erster Schritt zu leben

Zu Toledot
Der alte Text ist schon ergraut.
Ich wasche allen Staub von mir ab, alles Leben, bald werde ich frei sein.

(2021)

Zu: Fanny Hensel: Streichquartett in Es-Dur, Quatuor Ebène, Aufnahme, 26.08.2012

Man stelle sich das Quartett vor, das da sitzt und spielt. einfach spielt. Nachdem der Chor sang und bevor – was kommt? Es ist der Musikraum der Romantik, der versucht wird, betreten zu werden. wenn man sie heute aufführt. und das geschieht oft. Oft genug? Was hat er an sich? Es ist nicht Klassik, sondern hat noch das Moderne, das Nacht ist, hundert Sechzehntel rasen hinein in die Höhle in der Nacht, hunderte, tausende. Und es wird wiederholt, das Thema des Beginns. Ruhiger, viel ruhiger, und es dringen Variationen durch, chromatische Erhöhungen des Themas, das Dunkle, pizzicato.

Nächster Satz. Was kommt? Stille, noch, nichts, ein Husten. Jetzt: Man streicht, streichelt. Bis zur Sonne wie ein sanfter Lichtstrahl, der zurückgeht, der es alles erreicht. Und zum Mond kommt und nicht weiß, warum. Schließlich einsieht: ein erleichtertes Dur, das nicht hart, und simpel, noch nicht einmal mozartisch ist, aber nur, weil es gleich zum Moll wieder wird? Jetzt erzählen sie, sich, die vier, von den Erlebnissen bei Sonne und Mond: Und ich war da und da und runter wieder, spricht die Geige. Aber alle wollen auch reden, die Hohen fallen ein. So wird es wohl lange weitergehen. Man kann sich das Gespräch vorstellen. Es herrscht doch Einigkeit, die romantische All-Einheit, ja, mit dem All, wo Sonne und Mond sind. Aber doch streiten sie, kommen zur Ruhe. Es ist das Ideal, das Ideal des Lebens. Wieso kann sie das, diese Musik? Uns WIRKLICH diese Ideale zeigen. Ich habe das nie geglaubt, wenn so über Musik geschrieben wurde. Aber, glaube mir: jetzt GLAUBE und WEISS!!! ich es wirklich. Es ist das Ideal des Lebens, dass sie uns zeigt. Es ist Wahnsinn. Es ist die Welt, die darin gefangen ist, in diesem Raum, und die man manchmal berührt, wenn man heute romantische Musik spielt – und singt natürlich, denn es ist ja alles Erzählung, und wo ist die Erzählung noch am durchscheinendsten als im Gesang. Ich bewundere den Romantik-Kenner. Es ist so viel, es ist ein Universum von Welten, diese Gefühle. Sie kommen im HOHEN zur Ruhe, alle wieder bei der Sonne.

Satz 4? Muss schnell sein, und in dem Moment, in dem ich das denke, beginnt er, mit Sechzentelläufen. Nach der Ruhe und All-Einheit zuvor. Noch sehr homophon geeint, es ist ja nur eine Melodie, die es gibt, alles Eins. Berichtet schnell der Erde da unten, oder nein, die Erde alles schreit nach oben zur Sonne. Diese Kenner. Noch keine ganze Epoche. Nur einen Autor. Jetzt großer wahnsinnigster Aufruhr aller Erde zu den Sternen. Und herab rennen sie in Sechzenteln. Und tummeln sich, während die große Stimme weitergeht. Diese Musik. Ich möchte sie spielen, und man wird zu dieser Welt. Das Tempo ist Presto, molto, molto, molto. Wie geht das? Schreiben ja, aber spielen? Man übt so lange, das alles, und kommt der Welt dahinter immer näher. Warum ist der Gesang in der Romantik nie so schnell? Was vermissen wir daran? Oft hat man Ähnliches, aber der Text macht es dort aus. Hier ist es etwas, das Textes nicht bedarf. Das Finale bricht an, man merkt es. Und tosender Applaus.

(2018)

Zu: Ruzicka: Benjamin, Theater Heidelberg, 08.04.2019, letzte Vorstellung

Ich fühle mich irgendwie verpflichtet – die Frage ist nur, wem gegenüber eigentlich – wenigstens ein paar Zeilen zur heutigen Opernaufführung zu schreiben. Ich war davon überzeugt, es hat mir gefallen, ich achte die wagende Arbeit des (anwesenden) Komponisten, wie die Leistung der Darsteller oder Ausführenden (dazu zählen bei einem Sängerensemble von nur 6 Personen, so ich es richtig behalten habe, drei Dirigenten).

Die Darbietung beginnt als Theater. Es wird mit Schildern bezeichnet, wer wen spricht, gesungen wird, gerade zu Beginn, kaum, ein ganzer Chor ist im ersten Akt immer auf der Bühne, wobei er stimmlich dann im zweiten/dritten Akt vom Rang bzw. der Seite aus voll zu tragen kommt. Das Orchester spielt derweil Orff. Dann tritt der zuvor aus dem Hintergrund rezitierend, sprechend erklingende Kinderchor auf, er singt Volksliedhaftes. Aber das Ensemble – und heute hat tatsächlich ein Sänger vom Bühnenrand aus eine Partie übernommen, die des Brecht-Darstellers, der nur spielend zu sehen war, seit einer Woche erkrankt (Laryngitis), der Singende seit einer Woche die Noten, nun, es geht – als es zwischen den zwei Vorhängen ganz in schwarz singt, die zuvor noch den Schriftzug enthielten: Die Wiener Gasgesellschaft hat beschlossen, die Gaszufuhr der Juden abzustellen. Die Ausgaben gingen in die Kosten, die Rechnungen wurden nicht beglichen, da der große Verbrauch vornehmlich zu einem Zweck genutzt wurde: dem Selbstmord. Das Ensemble um den Benjamin-, also Walter-, Darsteller und Sänger herum, in Einklang mit der Harmonik des Orchesters, gelingt. Soll das ein Kontrast zu Walter sein, der immerzu, auch später noch und ganz bis zum Ende, wiederholt: Das Fleischermesser, ich muss ihm zuvorkommen…. (etwas anders, aber so ähnlich)? Denn die Deklamation Walters bricht immer stärker in den Ensemble-Klang, diesen harmonischen, herein, schließlich überlappt sich alles. Soll das Ensemble noch Kontrast bilden, hier? Es tut es nicht, es zeigt aber die Unmöglichkeit einer Harmonie angesichts des Schreckens (Adorno!). Ist dies beabsichtigt? … Aber es ist Oper, und das ist zeitgenössisch: Was, fragte ich mich, wird man später über uns schreiben (i.S. von komponieren), unsere Zeit? Es gibt freilich jetzt zeitgenössische Opern, aber das ist doch anders. Hannah Arendt, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Asja Laia und die anderen (beiden?) sind doch noch aktuell, und sind doch schon vorbei. Die Requisite und Kostüme waren zeitgenössisch (dem Beginn des 20. Jahrhunderts vielleicht sogar nicht mehr ganz angemessen, teilweise älter).

Am bemerkenswertesten an dieser Inszenierung, was aber sicher durch die kompositorische und dramaturgische Vorgabe bedingt ist, ist die Gleichzeitigkeit von Theater und Musiktheater. Zu kurz für eine Oper, mag man bei weniger als 90 Minuten Aufführungsdauer meinen, die ein paar Zuschauer nicht lange durchhielten, vor dem Ende des Applauses, aber auch schon höchstens nach 45 Minuten haben einige aus den hinteren Reihen (ja, sehr wenige, zwei vielleicht so früh) das Haus verlassen, aber es war ohnehin nicht voll besetzt. Es ist ungewohnt, gerade zu Beginn: der Sprechgesang, das Schockierende der Texte, denn es ist ja aktuell, viele haben gelebt zu dieser Zeit (das Publikum ist über dreißig, über vierzig) oder eben kurz nach dieser Zeit, es löst auch bei mir Betroffenheit aus, derer Großeltern, Urgroßeltern damals jung waren, damals lebten, denn diese Zeit ist so präsent. Doch dieses Schockierende sowohl der Musik (des Sprechgesangs, der harmonischen Ensemblehaftigkeit, des volksliedhaften Kinderchors, der Orff-Klänge in sich immer wiederholendem Chorgesang aus dem Rand des Zuschauerraums, das Applaudieren des Chores von beiden Seiten desselben bei Auftritt und Ankündigung von Bertolt – dabei denkt man so sehr an Tieck, und wenn Tieck heute noch modern ist, das ist er absolut, dann ist es Ruzicka allemal, und Romantiker ist er in dem epochal-stilistischen Sinn auch). Es ist schon erstaunlich, dass noch hunderte Jahre später das, was, bevor der Stoff, der heute der kaum vergangenen Vergangenheit, schon gerade nicht mehr der Gegenwart, angehört, überhaupt geschah, schon existierte, eine romantische Musikvorstellung (wieder an Tieck und Wackenroder erinnernd und denkend), noch immer nicht gewöhnlich ist. Gut ist das, das Romantische und gewöhnlich? – Das wäre nicht mehr authentisch, vielleicht wäre es Kitsch. Dann muss das Konglomerat der Stile als das Moderne geschätzt werden und all das ist genau so, wie es dargeboten wird, richtig, da es absolut frei ist. Eine Kritik der Gestaltung ist kaum noch möglich, es müssten denn herkömmliche Beschreibungsansätze herangezogen werden. Und da es sehr viel Theater war (ja, auch aufgrund des Hauses, aber die Oper ist so ausgelegt!), vermisst man doch weiterhin noch ein bisschen das Theatrale (in einem neuen Sinn des Wortes): Es müsste authentischer sein, noch viel betroffener machen (und dann zitiert Ruzicka bzw. die Dramaturgin und Drehbuchautorin Yona Kim wieder Brecht, aber das ist nicht nur ein Zitat wie das Orffs eines ist), es müsste noch mehr Theater sein, dann wäre es noch mehr moderne Oper, dann wäre es noch quälender, dann würden noch mehr Menschen den Rang verlassen, und genau dann wäre es gelungen. Das Ziel ist, dass es keiner aushält, dass es gerade jetzt ist, dass es nicht reproduziert werden kann, aber genau deshalb werden wird, das Ziel ist alles zu wagen, das Ziel ist so grandios.

(2019)

Alle Rechte an den Texten liegen bei den Autor:innen. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Wiedergabe ist nur nach vorheriger Anfrage/Absprache möglich.